Zeitreisen im Deister - Fortsetzung
Im Jahre 1964 wurden in Bredenbeck am Nordrand des Deisters die Reste einer steinzeitlichen Besiedelung entdeckt. Das waren Werkzeuge aus Feuerstein, wie Kratzer zur Fellbearbeitung, Beilköpfe und Pfeilspitzen. Daneben gab es Reste von Feuerstellen. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass diese Funde zur sogenannten Duvensee-Kultur gehörten und aus der Zeit von 8000 bis 5000 v.Chr. (Mesolithikum) stammten. Die Duvensee-Kultur beschreibt einen menschlichen Siedlungsraum von Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Teilen von Brandenburg und eben bis nach Niedersachsen. Die Menschen damals lebten als Jäger und Sammler. In diesem Gebiet erstreckten sich ausgedehnte Birken- und Kiefernwälder, durchsetzt von Haselnusssträuchern, Eichen- und Buchenbeständen, in denen Rehe, Hirsche, Wildschweine, Elche und Wildpferde zahlreich waren und den Menschen neben Nüssen, Wurzeln und Beeren Nahrungsgrundlage waren.
Episode 2
Dieses Mal wartete das kleine Wesen schon am Treffpunkt am Kappenberg, als ich in der Morgendämmerung ankam. „Und, hat es dir beim letzten Mal gefallen?“ fragte es und schaute mich mit schiefem Kopf prüfend an. „Und ob!“ entgegnete ich und wollte gerade ein paar Fragen stellen, die mich seit meiner letzten Zeitreise dauernd beschäftigt hatten. Wie funktioniert das eigentlich, aus welchem Material ist die weiße Kugel, wie genau ist die Zeitsteuerung, ist das Ganze ein Zaubertrick oder real? Aber das Wesen ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern fragte ganz direkt, wie weit ich dieses Mal zurückreisen wolle. Ich hatte mir das vorher genau überlegt, denn ich fand die Steinzeit ziemlich spannend. Also sagte ich „achttausend“, und schon flog die weiße Kugel wieder auf mich zu, so schnell, dass ich Mühe hatte, sie aufzufangen. Als meine linke Hand sie umschloss, zog es mich wieder in den Zeitstrudel hinein, und einen Augenblick später fand ich mich am Nordrand des Deisters unterhalb des heutigen Sandkopfs wieder.
Ich schaute mich um. Die Bewaldung war nicht allzu dicht, Birken und Kiefern. Vögel zwitscherten, ansonsten kein Geräusch. Ich schlich vorsichtig hangabwärts. Dabei kreuzte ich einige Wildwechsel und kam einige hundert Meter weiter in einen großen Bestand von Haselnusssträuchern. Die Nüsse waren noch nicht ganz reif, hingen aber in Massen an den Zweigen. Beim Weitergehen öffnete sich das Gelände allmählich und ich gelangte an den Rand einer Lichtung, an deren nördlichem Rand ein breiter Bach floss. Ich fand es nicht schlau, jetzt so einfach auf die Lichtung hinaus zu spazieren, sondern kauerte mich hinter einen Busch, um mir zunächst die Szenerie genauer anzusehen. Nach einer Weile erkannte ich auf der gegenüberliegenden Seite am Waldrand ein paar Gebilde, die nicht so recht in den Birkenbestand hineinpassen wollten. Waren das Hütten? Ich entschloss mich, am Rande der Lichtung weiterzugehen und mir die Sache aus der Nähe anzusehen. Und tatsächlich, es waren drei Schutzhütten, die aus dünnen Stämmchen gebaut waren und sich zwischen die Birken schmiegten. Sie waren kreisförmig mit einem Durchmesser von vielleicht drei Metern, und nach Süden zu hatten sie etwa meterhohe Öffnungen, durch die ich einen Blick ins Innere riskierte. Sie waren leer, bis auf einige Matten aus Birkenrinde, die vielleicht als Schlafunterlagen dienen konnten.
Hatte ich Behausungen von Jägern und Sammlern entdeckt? Es schien so, aber das Lager war verlassen. Ich schaute mich etwas genauer um. In der Nähe der Hütten lagen Tierknochen und Geweihe, daneben ein großer Haufen Nussschalen, ein Stück entfernt eine Mulde, die den Bewohnern vielleicht als Feuerstelle gedient hatte. Unweit davon fielen mir viele Steinsplitter auf, manche nur zwei Zentimeter lang und nadelspitz, andere deutlich größer. Dazwischen lag eine Sandsteinplatte, die deutliche Kratz- und Schleifspuren aufwies. Hatte ich hier die Werkstatt für Pfeilspitzen, Angelhaken und anderes Gerät entdeckt? Am liebsten hätte ich mir einige Proben davon eingesteckt, entschloss mich aber, lieber keine Spuren zu hinterlassen, nichts wegzunehmen und nichts anzufassen.
Ich bewegte mich vorsichtig in Richtung Bach und stellte fest, dass er recht breit war, schon ein kleiner Fluss, und munter dahinfloss. Ich spähte flussabwärts und stellte fest, dass sich in dieser Richtung das Gelände weiter öffnete, und sich dort vermutlich ein See befand. Bevor ich das weiter erkunden konnte, entdeckte ich am Rand des Flusses, verborgen unter einer Weide, zwei kleine Boote. Sie waren primitiv aus Baumstämmen ausgehöhlt. Darin lagen hölzerne Paddel, sorgfältig geschnitzt und ungefähr einen halben Meter lang.
Ich hockte mich am Flussufer hin und überlegte. Zweifellos war ich auf eine Lagerstätte von Jägern und Sammlern gestoßen, die nicht dauerhaft, sondern nur zu bestimmten Zeiten genutzt wurde. In der Steinzeit waren die Menschen noch nicht richtig sesshaft, sondern verlegten ihre Wohnstätten je nach Saison. Und hier gab es viele Nüsse, genügend Wild im Deisterwald und vielleicht einen besseren Schutz vor der winterlichen Kälte als in den Ebenen weiter nördlich. In dem Moment durchzuckte mich ein alarmierender Gedanke. Was, wenn gerade jetzt die Saison für dieses Lager begann? Die Haselnüsse standen kurz vor der Reife. Instinktiv schaute ich mich nach einem Versteck um, denn man konnte ja nie wissen ... Da fiel mein Blick auf eine große Birke, die einige Meter hinter der letzten Hütte stand. Ihr Stamm schien mir eine Höhlung aufzuweisen. Und tatsächlich, als ich sie näher untersuchte, fand ich eine Spalte, durch die ich mich ins Innere des Stammes quetschen konnte. Um die Birke herum stand einiges Gestrüpp, so dass diese Zuflucht gut getarnt war.
Ich kroch probehalber hinein, keinen Moment zu spät! Kaum hatte ich mich eingerichtet, tauchte eine Gestalt zwischen den Baumstämmen auf. Geduckt und vorsichtig schlich sie am Rand der Lichtung entlang und näherte sich den Hütten. Es war ein Mann, vielleicht 1,60 m groß, kräftig gebaut. Er hatte ein Fell um die Hüften gewickelt und war ansonsten unbekleidet. In der Hand hielt er eine Keule mit einem faustgroßen Stein an einem kurzen Stiel. Über dem Rücken hing ihm ein hölzerner Bogen, einige Pfeile daran befestigt und an der Hüfte steckte ein dolchähnlicher Gegenstand. Der Mann spähte angestrengt in Richtung der Hütten, näherte sich dann vorsichtig und schaute prüfend ins Innere. Offensichtlich erregte nichts sein Misstrauen. Er inspizierte noch die Boote unter der Weide am Fluss und stieß dann einen Pfiff aus.
Eine Weile später kamen weitere Menschen aus dem Wald, vielleicht 15 an der Zahl, Männer, Frauen und Kinder. Zwei der Frauen trugen Säuglinge in einfachen Tragen auf den Rücken. Die Gruppe folgte dem Späher und nahm ebenfalls die Behausungen genau in Augenschein. Das alles verlief geräuschlos ab. Erst nachdem sich alle überzeugt hatten, dass keine Gefahr drohte, begannen sie miteinander zu reden. Es war, als ob sich eine große Spannung löste, und sie froh waren, wieder in vertrauter Umgebung anzukommen. Während noch weitere Nachzügler aus dem Wald heraustraten, begannen die ersten damit, verschiedene Gegenstände, die sie mit sich getragen hatten, abzuladen und in den Hütten zu verstauen. Ich konnte von meinem Versteck aus allerlei Behälter aus Rinde erkennen, viele Felle und Beutel, deren Inhalt mir natürlich verborgen blieb. Einige schafften etwas zu den Booten, was wie Fischernetze aussah, aber auch das konnte ich nicht genau erkennen.
Ich war ehrlich gesagt in diesem Moment nicht mehr ganz so aufmerksam. Denn während die Menschen ausschwärmten, um ihr Lager wieder in Besitz zu nehmen, wuchs bei mir die Befürchtung, entdeckt zu werden. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Menschen auf mich reagieren würden und wollte keinesfalls eine Auseinandersetzung riskieren. Ich vertraute auf die weiße Kugel in meiner Hosentasche, ergriff sie, drückte sie mit der linken Hand ganz fest zusammen und – schwupps –
saß ich wieder auf meinem Stein am Kappenberg. Ich öffnete meine Hand, um mir die geheimnisvolle Kugel näher zu besehen, aber sie hüpfte wieder auf den Boden, als hätte sie ein Eigenleben, und verschwand in einem Erdloch.
Fortsetzung folgt.
Eine Fantasy-Geschichte, ausgedacht von unserem Mitbürger Dr. Stefan Fourier, anläßlich einer Deisterwanderung mit seinem Enkel Timon. (28.08.2020)
Über die Jahrtausende haben sich im Deister, vermutlich infolge seiner isolierten Lage inmitten der weiten norddeutschen Tiefebene, besondere Formen von Geistern entwickelt. Kenner der Szene benennen sie als Geisterdeister oder mit dem geisterwissenschaftlichen Begriff
spirit deisterensis.
Meist werden zu dieser Gattung auch die
Deisterzwerge
gerechnet, obwohl sie natürlich streng genommen einer anderen Art angehören. Die Geisterdeister sind nicht nur besonders im Vergleich zu den Geistern anderer Waldgegenden, etwa dem Harz oder dem Weserbergland, obwohl sie zu Letzteren durchaus verwandtschaftliche Verbindungen aus prähistorischen Zeiten aufweisen. Sie sind auch besonders gefährlich.
Darüber berichten übereinstimmend einzelne Menschen, die ihnen begegnet sind und die diese Begegnungen überlebt haben.
An der Spitze der Hierarchie der Deistergeister stehen zweifellos die
Deisterrachen. Sie sind zwar ziemlich dumm, aber wegen ihrer Gefräßigkeit und ihrer unheimlichen Jagdmethode äußerst furchteinflößend.
Glücklicherweise gibt es nur sehr wenige von ihnen. Man schätzt heutzutage nur noch drei bis vier Exemplare. Tagsüber sind sie überhaupt nicht wahrnehmbar, da sie sich vollkommen dem Waldboden angleichen. Mit der Dunkelheit erheben sie sich und beginnen ihren Raubzug. Man muss sich das so vorstellen, dass die Deisterrachen ihren nur wenige Zentimeter hohen Körper, der eine Fläche von mindestens fünf Metern im Durchmesser besitzt, ganz langsam vom Boden lösen und ungefähr dreißig bis vierzig Zentimeter über dem Waldboden zum Schweben kommen.
All das geschieht völlig lautlos und das Moos und die losen Blätter, mit denen sie bedeckt waren, bleibt einfach auf ihrem Rücken liegen. So beginnen sie dann, sich langsam durch den Wald zu bewegen. Sie schweben die ganze Umgebung systematisch ab und verursachen dabei keinerlei Geräusch. Aber wehe, sie treffen dabei auf ein am Boden schlafendes Tier. Erst schieben sie sich ganz langsam darüber hinweg und senken sich dann ebenso langsam und unhörbar auf ihre Beute hinab. Sie bedecken das Lebewesen vollkommen und ganz sanft, so dass es nicht einmal aufgeweckt wird. Und dann saugen sie es auf. Dieser Fressvorgang dauert einige Stunden und von der Beute bleibt nichts übrig. Die gesamte Unterseite des Räubers dient dabei als Maul, was den Namen Deisterrachen erklärt.
Durch das Anlegen von Wald- und Wanderwegen hat der Mensch den Jagdbereich der Deisterrachen stark eingeschränkt. Sie sind nämlich nicht in der Lage, diese befestigten Wege zu überqueren. Deshalb sind Wanderer im Deister kaum gefährdet, zumal die Deisterrachen nur nachts aktiv werden. Tagsüber könnte man getrost über sie hinweglaufen und würde sie noch nicht einmal bemerken. Aber wehe, dem Menschen, der sich nachts im Deisterwald zum Schlafen niederlegt. Er wäre verloren und würde es noch nicht einmal bemerken.
Weit weniger gefährlich für uns Menschen sind die
Deistersponner. Sie sind klein, höchsten daumengroß, extrem schnell, so dass man sie in Bewegung kaum wahrnehmen kann, und leben in großen Herden auf versteckten Lichtungen im Deisterwald. Dort haben sie ihre Nester, die wie Spinnweben aussehen, und an deren Erweiterung sie emsig bauen. Die Deistersponner ernähren sich von Insekten aller Art und sind ansonsten sehr genügsam.
In mondhellen Nächten singen sie gemeinsam berauschende Lieder. Mutige Wanderer, die sich nächtens in die Tiefen des Deisterwalds zu gehen trauen, können sie hören, wenn sie an den Rand der Lichtung kommen. Sie sollten allerdings die Lichtung keinesfalls betreten, denn dann werden die Deistersponner äußerst unangenehm. Wenn sie sich bedroht fühlen, sondern sie eine stinkende Flüssigkeit aus, die an den Schuhen und in den Kleidungsstücken haften bleibt und erst durch mehrmaliges Waschen ihren penetranten Geruch verliert. Bekommt ein Mensch den Sponnersaft auf die Haut, führt dies zu üblen Verbrennungen.
Also Vorsicht, Wanderer, trampelt nicht in die Kolonien der Deistersponner hinein. Sie wissen sich zu wehren!
Es gibt allerdings auch Berichte über hilfreiche Taten der Deistersponner. So ist aus dem letzten Jahrhundert ein Fall überliefert, bei dem ein kleiner Junge, der sich im Deisterwald verirrt hatte, von den Deistersponnern wieder auf den rechten Weg gebracht und dadurch gerettet wurde. Es ist nichts Genaues überliefert, weil der Junge nach tagelangem Umherirren im Wald bereits sehr erschöpft war, als er auf eine Sponnerkolonie traf.
Sie müssen ihn durch ihre Vielzahl regelrecht aus dem Wald herausgetragen oder irgendwie anders bugsiert haben. Jedenfalls gelangte er wohl um die Mittagszeit auf einen Weg und wurde dort von einer Wandergruppe gefunden, die ihn versorgte und nach Nienstedt brachte.
Kommen wir jetzt zur dritten wichtigen Gruppe der Deistergeister, den sogenannten
Deisterklopfern. Sie kamen zu ihrem Namen wegen der Klopfgeräusche, die sie zur Verständigung untereinander ausstoßen. Man kann diese Geräusche leicht mit dem Klopfen der Spechte verwechseln, allerdings erzeugen die Deisterklopfer sie nicht auf Holz, sondern ausschließlich in ihrem rotgefärbten Kehlsack. Ansonsten sind sie ziemlich unscheinbar und gehören zur großen Gruppe der Baumläufer.
Pausenlos rennen die Deisterklopfer an Bäumen rauf und runter, wozu sich natürlich die wunderbaren Buchenbestände im Deister besonders eignen. Mit Menschen kommen sie so gut wie nicht in Berührung, denn wer klettert schon beim Wandern an den Buchenstämmen hoch. Allerdings beklagen sich Waldarbeiter beim Baumfällen häufiger über Hustenreiz, der wohl von dem Staub kommt, den die Deisterklopfer aus Ärger über den Verlust ihrer Rennstrecken ausstoßen. Ansonsten sind die kleinen Burschen, die kaum größer als ein Daumennagel werden, sehr unauffällig, obwohl sie über eine wirklich übersinnliche Fähigkeit verfügen. Sie können nämlich das Wetter über Tage stundengenau vorhersagen.
Niemand weiß, wie sie das machen, aber wenn Regen droht, den sie überhaupt nicht vertragen, dann verschwinden sie plötzlich, noch bevor die ersten Tropfen fallen, und ziehen sich unter die Baumrinden zurück. Dabei nutzen sie feinste Haarrisse, indem sie ihre Körper zu dünnen Fäden strecken und auf diese Weise ins Innere der Bäume schlüpfen.
Und nun wären da noch die
Deisterzwerge. Es ist ja bekannt, dass noch bis vor fünfzig Jahren im Deister Kohle abgebaut wurde. Reste dieser Stollen gibt es noch viele, in Barsinghausen, in Wald bei Nienstedt und an manch anderen Stellen. Viele dieser alten Stollen sind nicht mehr zugänglich, manche überhaupt nicht mehr auffindbar. Und dort hausen die Deisterzwerge. Sie sind im Gegensatz zu Zwergen in anderen Gegenden ziemlich unangenehme Zeitgenossen, rauflustig, heimtückisch und absolut abweisend gegenüber Menschen und auch anderen Zwergen.
Im Berg horten sie ihre Schätze. Um sie zu bewachen, schicken sie in der Dämmerung Späher durch verborgene Spalten an die Oberfläche, etwa im Gebiet der Blocksteine. Häufig trifft man sie auch in Brombeergestrüpp, wo sie auf der Lauer liegen und nach Gefahr Ausschau halten.
Alle Deisterzwerge, egal ob Männlein oder Weiblein, die man sowieso nicht voneinander unterscheiden kann, sind mit kleinen Schwertern, Dolchen und Steinschleudern bewaffnet. Diese verstehen sie meisterhaft zu handhaben und niemand sollte ihnen in der Nähe der alten Stollen abends in die Quere kommen.
Es gibt allerdings immer wieder Geschichten darüber, dass die Deisterzwerge nicht nur ihre Schätze in den Tiefen des Berges bewachen. Es soll sich dort auch eine wunderschöne Prinzessin befinden, deren Anmut alle Zwerge in ihrem Bann hält. Für sie sammeln sie die Schätze, bringen ihr Speisen und Getränke, verwöhnen sie, so gut sie können und schützen sie eifersüchtig vor Fremden.
Ob das wohl Schneewittchen ist?
Die nachfolgende schöne Weihnachtsgeschichte hat Renate Fischer eingereicht.
Gibt es einen Weihnachtsmann?
Die achtjährige Virginia O´Hanlon aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung „Sun“ einen Brief:
"Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der „Sun“ steht, ist immer wahr.
Bitte, sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O´Hanlon."
Die Sache war dem Chefredakteur so wichtig, daß er seinen erfahrensten Kolumnisten, Francis P. Church, beauftragte, eine Antwort zu entwerfen – für die Titelseite der "Sun".
"Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, daß es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können.
Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann.
Es gibt ihn so gewiß wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müßte verlöschen.
Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben.
Gewiß, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht - was würde das beweisen? Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts.
Die wichtigsten Dinge bleiben meistens unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf den Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie.
All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen - das vermag nicht der Klügste auf der Welt.
Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum?
Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein.
"Ist das denn auch wahr?" kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger. Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.
Frohe Weihnacht, Virginia.
Dein Francis Church."