Morgendämmerung. Im Wald war es noch dunkel. Ich war an meinem Treffpunkt angekommen, wie verabredet. Kappenberg, Hügelgräber und dann noch ungefähr hundert Meter durch Dickicht. Ich hockte mich auf einen Stein. Vielleicht war es ein Findling aus der Elstereiszeit vor 350.000 Jahren? Damals war hier alles von einer fast hundert Meter hohen Eisschicht bedeckt, selbst der Bröhn mit seinen heute 405 Metern – die höchste Kuppe des Deisters.
Ich wartete. Ob er wohl kommen würde? Oder sie? Nach einer Weile spürte ich etwas im Rücken, drehte mich um, und da war es. Ein Wesen, ungefähr einen Meter groß, nur undeutlich zu erkennen. „Da bist du ja,“ sagte es mit einer Windhauchstimme. „Und du sitzt sogar schon auf dem richtigen Stein. Wie weit willst du denn zurück?“ „Dreihundertdreißigtausend Jahre!“ sagte ich spontan und hatte dabei die Holstein-Warmzeit im Hinterkopf, in der in unserer Gegend angenehme Temperaturen wie heutzutage geherrscht haben sollen.
Das Wesen hatte plötzlich eine kleine weiße Kugel in der Hand. „Diese Kugel darfst du nicht verlieren. Wenn du sie in der linken Hand fest drückst, dann kommst du wieder zurück von deiner Reise. Hier, fang auf!“ Und schon flog die Kugel auf mich zu. Ich fing sie auf, nahm sie in die linke Hand und wurde plötzlich von einem Strudel erfasst. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, und ich fand mich in den Ästen einer großen Fichte wieder, hoch auf dem Kamm des Deisters.
Verblüfft schaute ich mich um. Nadelwälder, so weit das Auge reichte, durchzogen von Lichtungen. Keine Felder, keine Straßen, keine Gebäude. Natürlich nicht, denn ich war ja Jahrhunderttausende zurückgereist und genau in der Holstein-Warmzeit, zwischen Elster- und Saaleeiszeit, angekommen. In Richtung Westen erstreckte sich ein unendlicher Wald, über den Höhenzug des Süntel hinweg bis zum Weserbergland. Dazwischen zog ein riesig breiter Fluss dahin.
In den Niederungen nach Osten, wo heute Hannover liegt, waren ausgedehnte Buchsbaumbestände zu erkennen. Nicht weit vom Deisterhang entfernt begann ein großer See, an dessen Rändern dichtes Schilf wuchs. Ich merkte mir die Richtung und stieg vom Baum, um auf Erkundung zu gehen. Das erwies sich als ziemlich schwierig, denn in dem dichten Wald gab es keine Wanderwege, wie sie heutzutage im Deister überall zu benutzen sind. Ich folgte einem Wildwechsel, schlug mich durch dichtes Gestrüpp von Brombeeren und Haselnüssen und kam nach Stunden verschwitzt und müde am Seeufer an. Ich setzte mich an einen Baum, um mich ein bisschen auszuruhen. Zuvor vergewisserte ich mich, dass die weiße Kugel sicher in meiner Jackentasche verstaut war. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten, es war warm, und ich nickte ein bisschen ein.
Als ich nach einer Weile erwachte, schien die Welt unverändert unberührt. Ich wollte mich gerade erheben, um auf Erkundung ein Stück am Seeufer entlangzugehen, als ich am Rande des Schilfgürtels eine Bewegung wahrnahm. Ich schaute genauer hin und erkannte ein paar Pferde, die dort grasten. Sie waren klein, nicht viel größer als Shetlandponys. Es war eine friedliche Szenerie. Die Sonne glitzerte auf dem See, das Schilf bewegte sich leicht im Wind, Libellen surrten. Plötzlich erhob sich ein fürchterlicher Lärm, Geschrei, Pfiffe, Trommelschläge. Die Pferde sprangen ab und suchten ihr Heil in der Flucht. Aber sie kamen nicht weit, denn plötzlich tauchten hinter Schilfbüschen menschliche Wesen auf. Sie warfen aus 20 Metern Entfernung Speere mit gewaltiger Kraft auf die flüchtenden Tiere. Ich staunte über die Präzision dieser Würfe, denn mindestens fünf der Pferde waren sofort tödlich getroffen und brachen zusammen. Der Rest der Herde entkam der Umzingelung und flüchtete am Rande des Sees entlang.
Die ganze Jagd war unheimlich schnell vonstattengegangen, obwohl sicher viel Vorbereitung, Vorsicht, Geduld und Organisation unter den Jägern nötig gewesen war, die Herde so einzuzingeln. Die Jäger, vielleicht zehn an der Zahl, sammelten sich bei ihrer Beute. Ich konnte sie jetzt aus der Entfernung etwas genauer betrachten. Die größten Exemplare waren vielleicht 1,60 m groß. Sie liefen in leicht gebückter Haltung und ihre Gesichter hatten etwas Schnauzenartiges. Niedrige Stirn, Überaugenwülste und ein kräftiger Körperbau. Homo heidelbergensis, eine Vorform der Neandertaler, schoss es mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich, dass vor einigen Jahren in Schöningen, in der Nähe von Helmstedt, nur 100 km vom Deister entfernt, Speere und andere Gegenstände von diesen Vormenschen ausgegraben wurden. Sie waren also auch hier gewesen, wo heute Barsinghausen liegt. Vielleicht sind sie auch über den Deister gewandert und gar durch Nienstedt gezogen, was es damals natürlich noch nicht gab, auf der Jagd nach Rotwild oder Waldelefanten.
Während ich noch meinen Gedanken nachhing, kam plötzlich Bewegung in die Gruppe. Ein Individuum zeigte mit dem Arm in meine Richtung und alle schauten mich an. Und dann rannten sie los, aber nicht weg, sondern mit hocherhobenen Speeren in meine Richtung. Mich ergriff Panik. Zum Glück fiel mir die weiße Kugel ein. Ich griff nach ihr und presste sie ganz fest in meiner linken Hand. Und schon – welch ein Glück und keine Sekunde zu spät – erfasste mich der Strudel und ich plumpste auf den Findling auf dem Kappenberg zurück.
Vor Schreck ließ ich die weiße Kugel fallen, die schnell in ein Erdloch rollte und verschwand.
Ich saß allein in der Stille des morgendlichen Waldes.
Autor: Stefan Fourier